Wissenschaft
Theorie
Die theoretischen Grundlagen der angewandten Atemwissenschaft liegen sowohl in der Psychologie (Verhalten) als auch in der Physiologie.
Atem-Psychologie
Die Verhaltensanalyse[1] stellt die theoretische Grundlage für die Identifikation und Arbeit mit Atemgewohnheiten dar. Atemgewohnheiten sind das Ergebnis von Lernprozessen (persönlicher Entwicklung). Emotionen, Empfindungen und Gedanken sind ein wichtiger Bestandteil dieser Lernprozesse. Daher ist es wichtig ein Bewusstsein für mit Atemgewohnheiten verbundene Emotionen, Empfindungen und Gedanken zu entwickeln um deren Entstehung zu verstehen und an ihrer Verbesserung zu arbeiten.
Anhand von Übungen wird im Kapno Atemtraining an der Verbesserung von Atemgewohnheiten gearbeitet. Das Ziel ist aber nicht, immer auf Übungen angewiesen zu sein sondern verbesserte Atemgewohnheiten zu entwickeln, die durch Selbstregulation stabilisiert werden.
Atem-Physiologie
Die Atem-Physiologie kann in
- Atemchemie,
- Atemmechanik,
- vegetative Regulationsdynamik (autonomes Nervensystem), und
- somatische Regulationsdynamik (Muskulatur)
unterteilt werden.
1. Atemchemie
Hier geht es im Wesentlichen um die Aufnahme und Abgabe von Sauerstoff durch die roten Blutkörperchen (Erythrozyten). Ein geringer Anteil von Sauerstoff wird auch im Blutserum gelöst und davon transportiert. Probleme können sowohl bei der Aufnahme als auch der Abgabe von Sauerstoff durch die roten Blutkörperchen auftreten. Eine verringerte Aufnahme von Sauerstoff ins Blut wird als Hypoxie bezeichnet. Probleme bei der Abgabe von Sauerstoff an das Gewebe resultieren aus einer verringerten oder überhöhten Verfügbarkeit von Kohlendioxid (Hypo- oder Hyperkapnie). Während Hypokapnie (Überatmung) ein weit verbreitetes Problem darstellt, kommt Hyperkapnie äußerst selten vor.
Hypoxie
Hypoxie ist ein Zustand bei dem es zu einem Mangel an Sauerstoff im Blut kommt. Messen lässt sich das sehr einfach mit einem Pulsoxymeter. Hypoxie kann durch Atemaussetzer entstehen, wie sie im Fall der Schlafapnoe auftreten. Auch organische Urschen und Erkrankungen wie COPD, Asthma oder COVID-19, bei denen Schädigungen des Lungengewebes auftreten können zu Hypoxie führen. Organische Probleme mit der Aufnahme von Sauerstoff erfordern eine medizinische Behandlung.
Sauerstoffaufnahme. Bildquelle: cosinuss
Daneben gibt es auch positive Wirkungen hypoxischer Zustände die aus verringerter Sauerstoffverfügbarkeit in der Umgebungsluft resultieren. Das im Profisport weit verbreitet Höhentraining veranschaulicht das. Auch kontrollierte, kurze Phasen von Hypoxie wie sie beim IHHT (maschinelles Höhentraining) eingesetzt werden, haben eine Reihe positiver physiologischer Wirkungen.[4]
Dazu zählen:
• Mitochondriale Rehabilitation (Verbesserung der Energiegewinnung in den Zellen)
• EPO-Gen Aktivierung (Verbesserung des Sauerstofftransports über Erhöhung der Erythrozyten – Medizin Nobelpreis 2019),
• Stimulation der endothelialen NO Produktion (Verbesserung der Sauerstoff- und Nährstoffverfügbarkeit durch Verbesserung der Blutzirkulation)
• Stimulation von Wachstumshormonen
Hypokapnie
bezeichnet einen Mangel an Kohlendioxid im arteriellen Blut.[3] Die Arbeit mit Atemgewohnheiten bezieht sich ausschließlich auf erlernte Hypokapnie (Überatmung) und nicht auf organische Ursachen. Dementsprechend richtet sich das Kapno Atemtraining an Menschen, die ihre Gesundheit, Leistungsfähigkeit und ihr Bewußtsein verbessern wollen. Es stellt keinen Ersatz für die medizinische Behandlung von organischen Erkrankungen dar.
Mit jedem Atemzug wird über die abgegebene Menge an Kohlendioxid Einfluss auf den Säure-Basenhaushalt des Blutes und aller anderen extrazellulären Flüssigkeiten des Körpers (Lymphe und Liquor) genommen. Die Bedeutung des pH-Wertes des arteriellen Blutes kommt im Bohr-Effekt zum Ausdruck. Er beschreibt wie von Veränderungen des pH-Wertes die Abgabe von Sauerstoff an das Gewebe beeinflusst wird. Genauso wichtig ist der pH-Wert des Blutes für die Produktion und Ausschüttung von Stickstoffmonoxyd (NO). Es spielt eine zentrale Rolle für die Erweiterung oder Verengung der Blutgefäße und damit nicht nur für den Blutdruck, sondern besonders für die Verfügbarkeit von Nährstoffen.[2]
Überatmung hat aufgrund der Steigerung des pH-Wertes im arteriellen Blut auf über 7,45 (Henderson-Haselbalch Gleichung) folgende negativen physiologischen Wirkungen:
• Trotz guter Sauerstoffaufnahme der roten Blutkörperchen kommt es zu einer Verringerung der Sauerstoffversorgung der Gewebe (Bohr-Effekt)
• Gefäßverengung (durch verringerte NO Ausschüttung)
• Verschlechterung der Nährstoffversorgung (durch Gefäßverengung)
• Belastung des Herz-Kreislaufsystems und Steigerung des Blutdrucks (durch Gefäßverengung)
Sauerstofftransport und Abgabe. Bildquelle: cosinuss
Überatmung ist also ein Zustand, bei dem zwar viel Sauerstoff im Blut gelöst ist, welcher aber nicht in ausreichender Menge an das umliegende Gewebe (Gehirn, Muskulatur, Organe) abgegeben wird.
2. Atemmechanik
Die wichtigsten Aspekte der Atemmechanik sind Brust- oder Bauchatmung, Atemfrequenz und Nasen- oder Mundatmung. Meist beziehen sich praktische Empfehlungen für die „richtige Atmung“ ausschließlich auf die Atemmechanik und vernachlässigen die Atemchemie.
Eine Atemtechnik die auf Beeinflussungen der Atemmechanik basiert ist das Kohärente Atmen.[5] Dabei geht es um eine Atmung, welche durch Verlangsamung (rund sechs Atemzüge/Minute) und Bauchatmung die Blutzirkulation unterstützt und Atem- und Blutfluss in eine resonante Schwingung zueinander bringt. Dabei spielt das Zwerchfell und die mit seiner Bewegung verbundene Thorax Pumpe/Respiratorische Pumpe eine zentrale Rolle.
Neben den theoretischen Zusammenhängen rund um die Thorax Pumpe gibt es besonders in der Buteyko-Schule empirische Arbeiten zu den Vorteilen von Nasenatmung gegenüber der Mundatmung.[6]
3. Vegetative Regulationsdynamik
Das autonome Nervensystem (ANS) besteht aus einem sympathischen und einem parasympathischen Zweig. Meist werden diese Zweige als Gegenspieler verstanden. Der Sympathikus wäre für Aktivierung und der Parasympathikus für Deaktivierung zuständig (Gaspedal, Bremse Modell). Die Herausforderung für die autonome Regulation liegt in dieser Sichtweise darin zwischen den zwei Endpunkten Kampf und Flucht (Sympathikus) sowie Starre (Parasympathikus) eine Balance zu finden. Dieser eindimensionalen Sichtweise steht in der wissenschaftlichen Literatur das Autonomic Space Model gegenüber[7]. In diesem Modell können Sympathikus und Parasympathikus nicht nur Gegenspieler sein, sondern auch Mitspieler (ihre Aktivierung kann gleichzeitig steigen oder sinken). Das erbringen von Leistung bei gleichzeitiger Entspannung (Flow Zustände) sind in dieser Sichtweise nicht mehr physiologisch unmöglich. Die Herausforderung für die autonome Regulation (Balance) besteht laut diesem Modell in einer der Aktivität angemessenen sympathischen und parasympathischen Aktivierung.
Ähnlich dem Autonomic Space Model in der Literatur über die menschliche Physiologie hat sich in der psychotherapeutischen Literatur das Konzept des Toleranzfensters zur Beschreibung der vegetativen Regulationsdynamik etabliert.[8] Balance bedeutet dort Regulationsfähigkeit zu erhalten und Kontrollverlust zu vermeiden. Kontrollverlust tritt außerhalb des Toleranzfensters auf, bei zu starker, einseitiger sympathischer Aktivierung (ausflippen) oder bei zu starker einseitiger parasympathischer Aktivierung (erstarren).
Einen wichtigen Beitrag zum Thema vegetative Regulationsdynamik in Zusammenhang mit sozialem Verhalten hat die Polyvagal-Theroie geleistet. Die Entdeckung des für soziale Interaktion besonders relevanten vorderen Zweiges des Vagus Nervs (ventraler Vagus) erlaubt es je nach Aktivierung von Sympathikus, vorderem und hinterem Vagus zwischen fünf Zuständen des autonomen Nervensystems zu unterscheiden: Kampf und Flucht, sportlicher Wettbewerb, soziale Interaktion, Intimität, Starre[9]. Durch die fehlende Aktivierung des vorderen Vagusnervs ist bei Kampf und Flucht sowie Starre soziale Interaktion nur sehr eingeschränkt möglich. Die Fähigkeit den ventralen Vagus zu aktivieren erscheint dadurch als wichtige Komponente von Balance. Beispielsweise erfordern Teamsportarten (körperliche) Kommunikationsfähigkeit sowohl innerhalb des Teams als auch im Kontakt mit Gegnern. Dazu ist das Nervensystem aber nur in der Lage, wenn es sich nicht im Zustand von „Kampf und Flucht“ befindet, sondern im Zustand des „spielerischen Wettbewerbs“. Dieser Zustand lässt sich trainieren und steht in Verbindung mit einer ausreichenden Aktivierung des vorderen (dorsalen) Zweig des Vagusnervs. Wird Leistung in diesem Zustand erbracht ist darüber hinaus auch weniger Regeneration erforderlich als im energiezehrenden Zustand von Kampf und Flucht.
Die Arbeit mit dem AND stellt einen wichtigen Aspekt der angewandten Atemwissenschaft dar. Das vegetative Nervensystem wird von der Atmung beeinflusst. Daraus ergibt sich, dass über die Atmung mit vielen Prozessen die im Körper ablaufen gearbeitet werden kann. Die zwei wichtigsten Aspekte dieser Arbeit betreffen die Entstehung von Stress (Stessreaktion) und die Fähigkeit zur Regeneration (Vagus Stimulation, Baroreflex). Die Stressreaktion beschreibt einen Vorgang im Körper, der neben der Atmung hormonelle und vielfältige andere Wirkungen hat. Mit der Stressreaktion zu arbeiten bedeutet einerseits Bewusstsein dafür zu schaffen und Strategien zu entwickeln das Einsetzen der Stressreaktion zu vermeiden.[10] Dabei spielt auch der Aufbau von Ressourcen für Regeneration eine wichtige Rolle. Die Atmung spielt für die Stimulation des Vagus Nervs und den Baroreflex von Haus aus eine wichtige Rolle. Durch Verbesserungen der Atemgewohnheiten und mit spezifischen Übungen lassen sich gute Wirkungen erzielen (Artikel über Atemtraining und Stress).
4. Somatische Regulationsdynamik (Muskulatur)
Muskuläre Haltungs- und Bewegungungsgewohnheiten sind für viele Berufsgruppen von Bedeutung, von Orthopädinnen über Physiotherapeuten und Osteopathen bis hin zu Masseurinnen. Der wichtigste mit der Atmung in Zusammenhang stehende Muskel ist das Zwerchfell. Die Bedeutung der Atmung für die Verwendung der Muskulatur geht aber weiter darüber hinaus. Probleme der Kaumuskulatur oder der Rückenmuskulatur können in Zusammenhang mit der Atmung stehen. Zur Beurteilung dieser Zusammenhänge kommen kliene Muskelspannungssensoren (sEMG Sensoren) zum Einsatz die mit Elektroden auf den jeweiligen Muskel geklebt werden.
Verweise:
[1]Leslie, Julian C. 1996. Principles of behavioral analysis. Taylor & Francis.
[2]Schwartzstein, Richard M. and Parker, Michael J., 2006, Respiratory physiology: a clinical approach, Lippincott Williams & Wilkins
[3]Laffey, John G. and Kavanagh, Brian P., 2002, Hypocapnia, New England Journal of Medicine, Vol. 347, No. 1 Mass Medical Soc., p. 43-53
[4]Egorov, Egor, 2020, Zell-Training: Mit Hypoxie entspannt mehr Energie gewinnen, Eigenverlag; Serebrovskaya, Tatiana V., 2002, Intermittent hypoxia research in the former Soviet Union and the Commonwealth of Independent States: history and review of the concept and selected applications, High Altitude Medicine & Biology , Vol. 3, No. 2 Mary Ann Liebert, Inc., pp. 205-221
[5]Watkins, Alan, 2013, Coherence: The secret science of brilliant leadership, Kogan Page Publishers; Ehrmann, Wilfried, 2016, Kohärentes Atmen: Atmung und Herz im Gleichklang, Tao-Verlag
[6]z.B.: McKeown, Patrick; O’Connor-Reina, Carlos; Plaza, Guillermo, 2021, Breathing Re-Education and Phenotypes of Sleep Apnea: A Review, Journal of clinical medicine, Vol. 10, No. 3, Multidisciplinary Digital Publishing Institute, p. 471
[7]Berntson, Gary G. and Cacioppo, John T. and Quigley, Karen S., 1991, Autonomic determinism: the modes of autonomic control, the doctrine of autonomic space, and the laws of autonomic constraint. Psychological review, Vol. 98, No. 4, American Psychological Association, p. 459-487
[8]Siegel, Daniel J., 2012, Pocket guide to interpersonal neurobiology: An integrative handbook of the mind, WW Norton & Company
[9]Rosenberg, Stanley, 2018, Der Selbstheilungsnerv, VAK Verlag
[10]Wim Hof